Auch sechs Jahre nach dem Rücktritt von Wolfgang Schüssel als ÖVP-Obmann prägt „er“ noch immer die Volkspartei. Psychologisch gesehen ist das auch nachvollziehbar: Es war Schüssel, der in den Jahren ab 2000 die ständige und teilweise dramatische Abwärtsbewegung seiner Partei nicht nur stoppen, sondern sogar umkehren konnte. Nach dem desaströsen Wahlergebnis von 1999, bei der die ÖVP – mit Schüssel als Spitzenkandidat – nur 26,9 Prozent einfuhr und erstmals nur Dritter wurde, gelang ihm das Kunst- und Husarenstück, sich und die Volkspartei am Verhandlungstisch am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen: Als Dritter der Wahl ging er Anfang Februar 2000 nicht – wie vorher angekündigt – in Opposition, sondern unterirdisch zur Angelobung als Kanzler.
Der Wiedereroberung des Kanzleramts für die ÖVP nach 30 Jahren Durststrecke als Oppositionspartei oder als Juniorpartner in einer Koalition folgte 2002 auch die Rückkehr zu alter, zuletzt Mitte der 1980er Jahre erreichter Stimmenstärke: 42,3 Prozent. Die nachfolgende Regierungsjahre zunächst mit der FPÖ und nach deren Spaltung 2005 mit dem BZÖ waren über weite Strecken de facto eine ÖVP-Alleinregierung. Wolfgang Schüssel hatte der Volkspartei damit eine Machtfülle und ein Selbstbewusstsein zurückgegeben, die für sie jahrzehntelang selbstverständlich gewesen waren – bis Kreisky kam.
Hier verbirgt sich auch das Kernproblem der Schüssel-Jahre, die so gerne eine „Ära“ geworden wären – sie waren im Kern ein revanchistisches und rückwärtsgewandtes Projekt, sprich: der Versuch, Kreisky und seine linke Politik der Siebziger Jahre ungeschehen zu machen. Schüssel suchte dies zu erreichen, indem er mit zwei Jahrzehnten Verspätung die konservativen Achtziger Jahre in Österreich nachahmen und nachholen wollte.
Als junger Politiker hatte Schüssel miterlebt, wie nach den von linkem Zeitgeist und sozialdemokratischer Politik geprägten Siebziger Jahren das Pendel scharf nach rechts geschwungen war. Doch während eine Thatcher, ein Reagan und ein Helmut Kohl mit seiner „Wende“ ihren Ländern einen konservativen Stempel aufdrückten, da regierten in Österreich immer noch die Sozialdemokraten und genoß Kreisky unverändert hohes Ansehen. Immerhin war die ÖVP ab 1987 wieder an der Regierung, wenn auch in der Rolle als kleinerer Koalitionspartner.
Schüssel, ab 1989 als Wirtschaftsminister Teil der Regierung, erlebte mit, wie die ÖVP bei Wahlen weiter hinter der SPÖ blieb und immer stärker auch Stimmen an den neuen Mitkonkurrenten Jörg Haider verlor.
Als Schüssel 1995 schließlich selbst das Ruder in der Volkspartei übernahm, da setzte er sich bewusst vom sachlichen und konzilianten Auftreten seiner Vorgänger Riegler und Busek ab (das von den Wähler und Wählerinnen auch nicht honoriert worden war) und ging auf Konfrontationskurs: Kaum als ÖVP-Obmann im Amt, provozierte er auch bereits Neuwahlen – bei denen er mit seinem Kanzleranspruch allerdings kläglich scheiterte. Schüssel hatte geglaubt, mit dem Versprechen einer rigiden Sparpolitik punkten zu können, die er „Schüssel-Ditz-Kurs“ nannte“ – in Anlehnung an den „Raab-Kamitz-Kurs“ der ÖVP in den 1950er Jahren. Schüssel eigentliche Inspiration zu diesem Zeitpunkt war aber Newt Gingrich, der zur gleichen Zeit in den USA eine „konservative Revolution“ ausgerufen und einen extrem aggressiven Stil in die Politik eingeführt hatte (der Jahre später im „Impeachment“-Verfahren gegen Präsident Clinton gipfelte).
Schüssel holte sogar Gingrichs Berater und Wortschmied Frank Luntz nach Österreich (der später dann auch George W. Bush beriet und für diesen unter anderem den Slogan „War on Terror“ kreierte). Schüssels Pech: Auch Jörg Haider nahm sich zu jener Zeit ein Vorbild an Gingrich und seinen radikalisierten Republikanern und erwies sich dabei als die effektivere Kopiermaschine (den „Contract with America“ von Gingrich und Luntz etwa kupferte Haider als „Vertrag mit Österreich“ ab).
Dennoch bekam Schüssel schließlich ab dem Jahr 2000 seine Chance zur „Wende“. Doch statt einer epochemachenden Umgestaltung Österreichs reichte es nur zu einer schnöden Umfärbung des Landes und seiner Institutionen. Schüssels großer Triumph über Jörg Haider entpuppte sich letztlich als Pyrrhussieg und seine ÖVP landete nach ihrem Höhenflug wieder bei knapp über 25% Zustimmung in der Wählergunst. Anstelle einer Erfolgsbilanz hat Schüssel nach sieben Jahren Kanzlerschaft primär einen Scherbenhaufen aus Skandalen hinterlassen.