Die Wahlniederlage der ÖVP im Jahre 2006 war ein gewaltiger Schock für die Partei: Schüssel nach sieben Jahren als Kanzler abgewählt! Und das trotz eines mit beispiellosem Aufwand betriebenen und ganz auf seine Person zugeschnittenen Kanzlerwahlkampfs – und trotz einer im Wahlkampf durch den BAWAG-Skandal gehandicappten SPÖ. Die ÖVP wollte das Ergebnis weder am Wahlabend noch in den Tagen, Wochen, Monaten und Jahren danach wirklich wahrhaben: Es musste sich um einen „Wählerirrtum“ handeln!
Die ÖVP weigerte sich folglich die neuen politischen Verhältnisse anzuerkennen und zum normalen politischen Alltag überzugehen. Statt dessen setzte sie auf eine Politik des ständigen Blockierens und der Zusammenarbeit ausschließlich zu ihren Bedingungen. Ihr neuer Obmann Wilhlem Molterer agierte dabei als reiner Statthalter Schüssels, dessen primäres Ziel es war, Schwarz-Blau-Orange unter eine Art politischen Denkmalschutz zu stellen. Nichts am „großartigen Reformwerk“ Wolfgang Schüssels durfte zurückgenommen oder sonstwie verändert werden! Obwohl eine Mehrheit der ÖsterreicherInnen zuvor bei der Nationalratswahl gegen die Fortsetzung von Schüssels Politik gestimmt hatte…
In vielen Bereichen wirkt dieser „Denkmalschutz für Schwarz-Blau-Orange“ bis heute nach. Das vielleicht bekannteste Beispiel ist der Jugendgerichtshof, der unter Schwarz-Blau gegen den Rat von Expertenseite abgeschafft wurde und gegen dessen Wiedereinführung sich die ÖVP bis heute wehrt (dass es seit dem Auflassen des Jugendgerichtshofes zu einer Verschlechterung der Haftsituation bei Jugendlichen gekommen ist, mit zahlreichen Übergriffen und Vergewaltigungen, ist der ÖVP jetzt knapp vor der Wahl auch politisch auf den Kopf gefallen).
Bis heute nachwirken tut auch Schüssels „Verhandlungsgeschick“, also seine Fähigkeit, Wahlniederlagen bei den anschließenden Koalitionsverhandlungen in Siege umzuwandeln. Durch die ständige, von Schüssel vorexerzierte Drohung einer neuerlichen Koalition mit der FPÖ, kann die ÖVP eine Ressortaufteilung erpressen, die eigentlich nicht ihrer Rolle als Juniorpartner der Koalition entspricht. Und es entspricht auch kaum dem Wählerwillen, dass eine Partei, die bei der letzten Wahl nach dramatischen Stimmenverlusten mit 25,9 Prozent und als Zweiter durchs Ziel gegangen ist, heute alle Schlüsselministerien von Finanz über Inneres bis Justiz in ihrer Hand hat…
Immerhin ist die ÖVP nicht gänzlich taub für Botschaften, die ihr das Wahlvolk schickt: Als es ihr 2008 nach eineinhalben Jahren widerwilligst ertragener Koalition mit der SPÖ „reichte“ und sie die Chance auf eine Korrektur des „Wählerirrtums“ von 2006 gekommen sah, da setzte sich nach der neuerlichen Niederlage dann auch innerparteilich die Erkenntnis durch, dass die „Ära Schüssel“ zu Ende gegangen ist. Und so machte Schüssels Statthalter Molterer Platz für Josef Pröll, unter dem es in der Folge zu einem zaghaften Versuch der Erneuerung und auch inhaltlichen Öffnung der Partei kam. Pröll war zuvor bereits Leiter einer „ÖVP-Perspektivengruppe“ gewesen, die 2007 Vorschläge für eine liberalere Ausrichtung der Volkspartei ausgearbeitet hatte (diese Vorschläge verstauben heute in irgendeiner Schublade in der ÖVP-Parteizentrale).
Pröll verdankte den ÖVP-Vorsitz von 2008-2011 jedoch nicht seinen liberaleren politischen Ansätzen, sondern vor allem dem Umstand, dass er der Mann der wesentlichen und bestimmenden Kräfte in der ÖVP war. Die da seit einiger Zeit sind: die niederösterreichische ÖVP unter (seinem Onkel) Erwin Pröll und Raiffeisen (es ist kein Zufall, dass Pröll 2011 von seinem Amt als Vizekanzler und ÖVP-Chef direkt in den Raiffeisen-Konzern wechselte). Diesen Kräften ging es nach der schmerzhaften Wahlniederlage 2008 und auch nach dem überraschenden, gesundheitsbedingten Ausscheiden von Pröll 2011 primär um eine schnelle Stabilisierung der verunsicherten Partei. Dabei war nicht jemand gefragt, der – wie es Schüssel tat – die Partei ganz nach eigenen Vorstellungen lenkte und umgestaltete, sondern jemand, der sein Amt konservativ ausübte. Jemand, der aus dem eigenen Umfeld kam und der daher berechenbar und notfalls auch steuerbar war. Jemand wie Michael Spindelegger.
Bildquelle: ÖVP Online – CC BY-ND 2.0